Lesedauer 11 Minuten

Genau wie beim Menschen gibt es auch bei Pferden zahlreiche Muskelerkrankungen, deren Ursache und Vielfalt teilweise noch im Dunkeln liegen und bei unseren Vierbeinern bei weitem nicht so gut erforscht sind wie bei uns. Aber was ist bisher der Stand der Wissenschaft?

Generell gibt es zum einen vererbte Muskelerkrankungen, bei denen der Erbgang und die vorliegende Mutation geklärt sind, aber auch Muskelerkrankungen, die aufgrund einer Stoffwechselstörung oder Hormonstörung entstehen können, als Folge falscher Fütterung klinisch auffällig werden oder aufgrund eines Muskeltraumas hervorgerufen werden.

Beim Menschen stehen hierzu eine Vielzahl an Daten und Studien zur Verfügung, von diesem Wissensstand sind wir beim Pferd leider noch weit entfernt. Aber auch bei Pferden gibt es neue Erkenntnisse aus der aktuellen Forschung im Bereich der Myopathien – der Muskelerkrankungen. Dadurch kann immer differenzierter zwischen den unterschiedlichen Erkrankungen unterschieden werden und als Folge davon werden immer neue Ursachen entdeckt. So wissen wir heute bereits, dass beispielsweise PSSM2 eher ein Überbegriff für mehrere darunter liegende, verschiedene Muskelerkrankungen ist. Mit Sicherheit wird die Anzahl der bekannten Myopathien – mit ihren unterschiedlichen Ursachen und Auslösern – beim Pferd in den nächsten Jahren noch weiter steigen.

„Genmutationen“ führen nicht zwangsweise zu Krankheit

Zu den Myopathien mit bereits bekannter genetischer Ursache gehören beim Pferd:

  • Polysaccharid Speicher Myopathie 1 (PSSM1)
  • Hyperkalämische Periodische Paralyse (HYPP)
  • Glycogen Branching Enzyme Deficiency (GBED)
  • Maligne Hyperthermie (MH)
  • Myosin Heavy Chain Myopathy (MYHM) oder Immunvermittelte Myositis (IMM)

PSSM1 und HYPP stellen jeweils eine genetische Prädisposition dar, deren Ausbruch zur klinisch manifesten Krankheit durch die Fütterung beeinflussbar ist. Davon betroffene Pferde profitieren also deutlich von einer angepassten Fütterung. Im Gegensatz dazu hat bei GBED (letal in den ersten Wochen oder Monaten), MH und MYHM die Fütterung keinen Einfluss.

Bei Letzteren handelt es sich also um genetische Erkrankungen und nicht um Prädispositionen („Veranlagungen“). Sowohl die genetische Krankheit als auch die Prädisposition werden vererbt. Der Unterschied liegt darin, dass es bei genetischen Krankheiten immer auch zwangsweise zur Erkrankung des Individuums kommt, unabhängig von Fütterung, Haltungsbedingungen etc., während bei einer genetischen Prädisposition der tatsächliche Ausbruch der Krankheit von den Umgebungsfaktoren abhängt, eben beispielsweise der Fütterung.

Muskelkrankheiten sind nicht zwangsweise die Folge einer „Genmutation“

Dazu kommen Myopathien mit noch ungeklärter (genetischer) Ursache:

  • Myofibrilläre Myopathie (MFM)
  • Polysaccharid Speicher Myopathie 2 (PSSM2)
  • Recurrent Exertional Rhabdomyolysis (RER)
  • Sporadic Exertional Rhabsomyolysis (SER)
  • Tying up

Sicher weiß man inzwischen, dass man MFM, PSSM2 und RER auch durch Fütterung beeinflussen kann. Bei Tying up und SER können verschiedenste Ursachen, von Fütterung bis Überlastung, beteiligt sein liegen. Nur die Diagnostik ist nicht ganz so einfach bei diesen Erkrankungen.

PSSM 2 – genetisch nachweisbar oder nicht?

Seit einiger Zeit werden Gentests für PSSM2 beworben, die endlich eine verlässliche und vor allem einfache Diagnostik für leidgeplagte Pferdebesitzer möglich machen sollen. Denn derzeit ist die einzige verlässliche Diagnostik die Muskelbiopsie – also ein Stanzprobe aus dem Muskel, die dann eingefärbt und unter dem Mikroskop ausgewertet wird.

Schaut man sich hier aber mal die wissenschaftliche Literatur zu diesen neuen Gentests an, dann wird klar: so einfach ist es dann doch nicht. Stephanie Valberg von der Michigan State University, die seit mehr als 20 Jahren an diesem Thema forscht, hat hierzu mehrere Publikationen veröffentlicht, die sich genau mit diesem Thema befassen. Zwei davon wollen wir hier näher beleuchten:

Valberg SJ, Finno CJ, Henry ML, Schott M, Velez-Irizarry D, Peng S, McKenzie EC, Petersen JL. Commercial genetic testing for type 2 polysaccharide storage myopathy and myofibrillar myopathy does not correspond to a histopathological diagnosis. Equine Vet J. 2021 Jul;53(4):690-700. doi: 10.1111/evj.13345. Epub 2020 Oct 29. PMID: 32896939; PMCID: PMC7937766.

Valberg SJ, Henry ML, Herrick KL, Velez-Irizarry D, Finno CJ, Petersen JL. Absence of myofibrillar myopathy in Quarter Horses with a histopathological diagnosis of type 2 polysaccharide storage myopathy and lack of association with commercial genetic tests. Equine Vet J. 2022 Mar 15. doi: 10.1111/evj.13574. Epub ahead of print. PMID: 35288976.

In diesen Publikationen wurden Warmblüter, Araber und Quarter Horses untersucht. Und allein schon bei diesen drei Rassen kommt es mit derselben Diagnose „PSSM2“ zu völlig unterschiedlichen Symptomen, was zeigt, dass wir es hier wahrscheinlich auch mit völlig unterschiedlichen Erkrankungen zu tun haben.

PSSM2 bei Warmblütern ist anders….

Bei Warmblütern sind erstaunlicherweise mehr Wallache von PSSM2 betroffen als Stuten. Bei mehr als zwei Drittel der Warmblüter sind Gangunreinheiten immer ein erstes Anzeichen für das Vorliegen von PSSM2. Weitere Anzeichen sind steife Gänge, verkürzte Schrittweite, kein Vorwärtsdrang und leichte Hinterhandlahmheiten ohne genaue Ursache. Auch die Enzyme CK und AST unterscheiden sich im Blutbild nicht von gesunden Pferden.

Bei Warmblütern mit der Diagnose PSSM2 kommt es nur sehr selten zu einem Kreuzverschlag im Vergleich zu Nicht-Warmblütern, die häufiger davon betroffen sind. Im Vergleich zu gesunden Pferden ist auch keine erhöhte Glycogenkonzentration im Muskel nachweisbar, das Glykogen im Muskel betroffener Pferde hat lediglich ein anderes Erscheinungsbild. Auffällig ist außerdem, dass bei vielen PSSM2 Warmblütern auch ein Magengeschwür nachgewiesen werden konnte. Spezielle Warmblut-Linien, bei denen PSSM2 auftritt, konnten bislang auch noch nicht identifiziert werden, weshalb eine genetische Komponenten bislang ausgeschlossen wird.

…Araber und Quarter Horses auch!

Im Gegensatz zu Warmblütern finden sich bei Nicht-Warmblüter, bei denen aufgrund einer Muskelbiopsie PSSM2 diagnostiziert wurde, häufiger Pferde mit Kreuzverschlag mit erhöhten CK und AST-Werten (vor allem Araber und Quarter Horses). In Quarter Horses geht PSSM2 auch sehr oft mit Muskelschwund und erhöhten CK-Werten einher, bei sehr jungen Quarter Horses auch mit der Unfähigkeit aufzustehen oder einer steifen Hinterhand.

In der oben genannten Studie von 2021 hatten 55 von 68 Warmblütern und 18 von 30 Arabern so genannte PAS Aggregate, d.h. es war eine abnorme Glykogenverteilung im Muskel nachweisbar. Bei den Warmblütern hatten 37 von 68 untersuchten Pferden Desmin-Aggregate. Bei den Arabern sage und schreibe 30 von 30 Pferden(!). Alle Pferde (Warmblüter und Araber) mit Desmin-Aggregaten in den Muskelzellen wurden reklassifiziert als myofibrilläre Myopathie (MFM), eine der Myopathien, die sich vermutlich unter dem Sammelbegriff PSSM2 verbergen.

Interessanterweise wies in den verschiedenen Untersuchungen zu PSSM2 bisher keines der untersuchten Quarter Horses eine Färbung für Desmin auf, eine Myofibrilläre Myopathie (MFM) konnte also bei den Quarter Horses bis jetzt nicht nachgewiesen werden.

Alle in den hier genannten Studien untersuchten Pferde waren negativ für GYS-1, es lag also kein PSSM1 vor und die Pferde in der Kontrollgruppe zeigten in der Muskelbiopsie weder abnorme Glykogenaggregate noch Desmin-Aggregate. Das ist als Übersicht in der folgenden Tabelle dargestellt:

Quelle: Valberg SJ, et al. Equine Vet J. 2021 Jul;53(4):690-700  

Im nächsten Schritt wurden die genetischen Varianten untersucht, die im Rahmen der PSSM2 Untersuchungen als kommerzielle Tests angeboten werden. Das Ergebnis dieser Untersuchungen liefert folgendes Bild:

Quelle: Valberg SJ, et al. Equine Vet J. 2021 Jul;53(4):690-700   

Hier wurden also Pferde der Kontrollgruppe (weder abnorme Glykogen- noch Desmin-Aggregate) verglichen mit Warmblütern (WB) und Arabern (AR) mit PSSM2- bzw. MFM-Diagnose aufgrund der Muskelbiopsien.

Zusammengefasst lässt sich nach dieser Auswertung sagen, dass es sowohl in der Kontroll- als auch in der PSSM2/MFM-Gruppe Pferde gab, die eine oder mehrere Mutationen in den P-Loci aufwies, also laut Gentests „PSSM2-positiv“ wären. Hier kann man natürlich argumentieren, dass die Krankheit vielleicht noch nicht bei allen Pferden klinisch ausgebrochen ist, was die negativen Ergebnisse in den Biopsien der Kontrollgruppe erklären würde. Allerdings gab es unter den Pferden, die laut Muskelbiopsie ganz klar klinisch an MFM bzw. PSSM2 erkrankt waren eine große Anzahl an Individuen, die keine der Mutationen aufwies. Das bedeutet also, dass Pferde an PSSM2 erkranken können, ohne über eine der Mutationen zu verfügen.

Quelle: Valberg SJ, et al. Equine Vet J. 2021 Jul;53(4):690-700  

Der fehlende Zusammenhang zwischen Gentest und klinischem Bild ist reproduzierbar

Auch in der 2021 erschienenen Studie, in der 229 gesunde Quarter Horses und 163 Quarter Horses mit (in Muskelbiopsien bestätigtem) PSSM2 untersucht wurden, konnte keine Korrelation zwischen den P-Varianten und dem Vorliegen von PSSM2 gezeigt werden.

Auch hier würden demnach 57% gesunder Quarter Horses aufgrund dieses genetischen Tests als krank eingestuft oder sogar aus der Zucht genommen. (43,2% der gesunden QH wiesen keine P-Variante auf, 56,8% zeigten mindestens eine Variante, 39,3% der PSSM2-QH zeigten aber auch keine einzige P-Variante und entsprechend war bei 60,7% der PSSM2-QH mindestens eine P-Variante nachweisbar).

Quelle: Valberg SJ, et al. Equine Vet J. 2022 Mar 15, 00:1-9  

Bei den Quarter Horses ist die häufigste Muskelerkrankung derzeit PSSM1 mit einer Verteilung von unter 10% in der gesamten Quarter Horse Population, was es sehr unwahrscheinlich macht, dass fast 60% aller Quarter Horses von PSSM2 betroffen sind und am Ende aus der Zucht genommen werden müssten.

Ein weiterer Befund aus diesen Untersuchungen ist die Tatsachen, dass auch das Vorliegen mehrerer Varianten nicht zu einer stärkeren Ausprägung der Symptomatik führte, was eine Beteiligung der untersuchten Gene an dem klinischen Bild PSSM2 noch unwahrscheinlicher macht.

Was heißt das für mein Pferd, wenn es laut Gentest PSSM2 positiv ist?

In der Konsequenz hieße das für die Ergebnisse der Gentests, dass völlig gesunde Pferde, die in der Histologie (auf Basis derer der Gentest entwickelt wurde!!!) keinerlei Anzeichen für eine Muskelerkrankung zeigen, als krank abgestempelt werden, der wahre Grund ihrer unzureichenden Leistung – man macht den Gentest ja nicht nur zum Spaß – aber nie gesucht und gefunden wird. Und bei den Zuchtverbänden würden völlig gesunde Pferde aus der Zucht genommen werden aufgrund eines nicht ausreichend validierten Tests.

Für die tatsächlich unter einer Muskelerkrankung im Sinne von PSSM2 leidenden Pferde heißt es hingegen im Umkehrschluss, dass nur ca. 40% durch den Test als krank „diagnostiziert“ würden. Und das auch nur rein zufällig, da das Vorhandensein der Varianten – wie in den beiden Studien zweifelsfrei nachgewiesen – nichts mit der Muskelerkrankung an sich zu tun hat. Was passiert mit den anderen 60%? Da geht die Leidensgeschichte weiter, sowohl für das Pferd, das eventuell eine Leistung erbringen muss, zu der es nicht in der Lage ist, als auch für den Besitzer, der ein Vermögen für weitere Diagnostik ausgibt, weil doch die Muskelerkrankung „PSSM2“ schon durch den negativen Gentest ausgeschlossen wurde.

Ein Zusammenschluss mehrerer Wissenschaftler zum Horse Genome Project fordert, dass kommerziell angebotene Gentests wissenschaftlich validiert und über Literatur, die einen peer-review Prozess durchläuft, verifiziert werden und somit eindeutig eine Korrelation zwischen beteiligtem Gen und Erkrankung nachgewiesen wird. Das ist bei dem kommerziell angebotenen Gentest auf PSSM2 bis heute nicht der Fall. Hier wird ein Test angeboten und aggressiv vermarktet, dem nicht nur die Validierung durch eine neutrale Stelle oder zumindest den wissenschaftlich anerkannten Peer-review-Prozess fehlt, sondern der – wie oben ausgeführt – sogar in hohem Maß völlig falsche Ergebnisse liefert, also für eine diagnostische Aussage in keiner Weise tauglich ist.

Alles in allem eine wenig zufriedenstellende Situation sowohl für das Pferd als auch für den Besitzer.

Wenn man nicht gleich eine Biopsie (mit allen damit verbundenen Kosten und Risiken) machen möchte, ist es an den einfachsten, betroffene Pferde zunächst einmal zuckerarm zu ernähren und auf zusätzliche Zufuhr von dünndarmverdaulichen Kohlenhydraten zu verzichten. Bereits über 80% aller Warmblüter mit PSSM2-Verdacht sprechen auf diese Maßnahmen an.

Pferde mit MFM sind etwas spezieller. Sie profitieren zwar auch ein bisschen von einer zuckerarmen Ernährung, sie benötigen aber noch zusätzlich eine etwas andere Fütterung, da hier vermutlich – zumindest bei Arabern – eine Störung im Cysteinstoffwechsel im Muskel vorliegt. Und es kommt noch dazu, dass sie nicht jeden Tag trainiert werden können. Wieviel das einzelne Pferd an Training verträgt muss individuell herausgefunden werden.

Im Sinne der Pferde kann man nur hoffen, dass die Wissenschaft hier möglichst bald eine bessere Diagnostik für PSSM2 bzw. die sich darunter verbergenden Myopathien liefert, als die derzeit angebotenen, nicht aussagekräftigen Gentests oder aufwendige und risikoreiche Muskelbiopsien.